Ein Jahr EU-Abgeordnete
Am 2. Juli 2019 erlebte ich meine erste Vollversammlung und wurde damit offiziell Mitglied des Europäischen Parlaments. Was für eine Reise – was für ein Jahr! Was zu Beginn des Wahlkampfes noch wie ein weit entfernter Traum schien, wurde schnell zur Realität. Vieles hat sich in meinem Leben verändert. Ich habe zahlreiche spannende Menschen kennengelernt und bin unendlich dankbar mit intelligenten und innovativen Köpfen aus ganz Europa unsere gemeinsame Zukunft mitgestalten zu können. Die riesige Freude darüber von Brüssel und Strasbourg aus – aber auch von Stuttgart, Freiburg oder Paris aus – Politik machen zu dürfen, gab mir das ganze Jahr so viel Motivation, für echte Veränderungen zu kämpfen. Sei es für den Schutz der Biodiversität, für eine umweltverträgliche Mobilitätswende, beim Einsatz für mehr Tierschutz oder einer besseren Wirtschaft – jeden Tag treibt mich der sozial-ökologischen Wandel an, ganz nach dem Motto:
„Wir sind diejenigen, auf die wir gewartet haben!“ (Hopi-Sprichwort)
Die politischen Höhepunkte
Eines der wohl wichtigsten Schritte in diesem Jahr dürfte sein, dass ich zusammen mit meiner irischen Kollegin Grace O’Sullivan die Gründung und Leitung der AG Artenvielfalt der Grünen Fraktion übernommen habe. Grace ist ehemalige Surferin und Kennerin der Meere und hat stets einen Blick auf die maritimen Ökosysteme. Ich selbst, als Försterin und Mitglied im Agrarausschuss, bringe Strategien voran, die die terrestrische Ökosysteme – besonders die Wälder – schützen können. Die neue EU-Biodiversitätstrategie hat das Potential den Umgang mit unserer gesamten Lebensgrundlage zu verändern. Vor wenigen Wochen habe ich mich persönlich an EU-Vize-Kommissionspräsident Timmermans gewandt und in einem Brief einen tiefgreifenden Wandel eingefordert, in Bezug auf die Art und Weise, wie wir mit gefährdeten Spezies und unserer Erde umgehen.
Für mich ist es fast wie ein „nach Hause kommen,“ dass ich die EU-Forststrategie 2020 bearbeiten darf.
In Zeiten des Klimawandels und der dringenden Notwendigkeit des Artenschutzes, sind die Anforderungen an die Waldwirtschaft enorm gestiegen. Gleichzeitig gehören schwerwiegende Dürren bereits zur Realität. Ein breit angelegter Dialog mit Förster*innen, Forstwissenschaftler*innen und der Zivilgesellschaft und ein einschneidendes Umdenken der aktuellen Forstwirtschaft sind notwendig, um die Zukunft der europäischen Wälder zu sichern und zu erhalten.
Als Franco-Deutsch-Schweizerin ist es mir ein großes Anliegen die kulturelle deutsch-französische Verständigung zu leben und zu verfeinern, sei es intern bei uns Grünen oder auch durch den Austausch mit vielen Experten und gesellschaftlichen Akteuren. Wir sprachen einmal von einem deutsch-französischen Tandem – nun gefällt mir das Bild eines gut abgestimmten Ruderbootes (mit allen 27 Ländern an Bord!) viel besser. Dazu braucht es viele Dialog-Veranstaltungen, die ich mit Freude initiiert habe.
Auch eine wissenschaftliche Publikation zum Thema Gemeinwohlökonomie (GWÖ) und Ihre mögliche Anwendung für die notwendige Ökologisierung der Agrarsubventionen ist unterwegs. Schließlich – last but not least – ist die Arbeit im Verkehrsausschuss sehr bereichernd. Wie verbinden wir Europa mit einem guten Nachtzugnetz? Wie können wir Bahnfahrgastrechte stärken? Und wie können wir den Ausbau des Schienennetzes über die Grenzen hinweg beschleunigen? Das sind Fragen, die ich mir in meiner Arbeit stelle und ganz konkrete Maßnahmen zum Klimaschutz. Darüber hinaus wurde ich kürzlich Berichterstatterin für das Projekt „2021: EU-Jahr der Schiene“. Ihr dürft gespannt sein!
Wie alles begann…
Mein Alltag änderte sich abrupt mit dem Einzug ins Europaparlament und war zunächst geprägt von vielen (Zug-)Reisen und Begegnungen mit neuen Kollegen, vom Austausch mit der Presse, Expert*innen und Interessenvertreter*innen, vom direkten Kennenlernen der EU-Organisationen und den labyrinthartigen Räumlichkeiten des Europäischen Parlaments. Mit drei Schulkindern Zuhause war alles eine große Herausforderung und gleichzeitig jedoch auch eine wahnsinnige Chance.
Es stand daraufhin an mein Team zu bilden, woraufhin die erste Teamklausur mit Annemarie, Constantin, Sara und Bianca im schönen Brüssel folgte. Nebenbei begann die Wohnungssuche in Brüssel und Strasbourg und das Zurechtfinden in den „Hauptstädten Europas“ und dessen alltäglichen Mobilitätsherausforderungen!
Themenfindung: Mobilität und Artenschutz
Schnell ging es inhaltlich zur Sache: Ich wollte für Themen einstehen und in Ausschüssen mitarbeiten, die mich bis heute sehr geprägt haben und mir sehr am Herzen liegen. Daher übernahm ich von Michael Cramer das Thema Mobilität für die deutsche Europagruppe und war fortan Mitglied im Verkehrsausschuss und dort vor allem für die Themen Bahn, urbane Mobilität, Nahverkehr und nachhaltigen Tourismus zuständig. Als Forstwissenschaftlerin konnte ich mich als Ersatzmitglied im Landwirtschaftsausschuss vor allem für die Themen Wald- und Artenschutz stark machen. Durch meine französischen und schweizerischen Wurzeln aber auch wegen meiner durchaus „Multi-Kulti Familie“ kann ich nicht anders als tagtäglich über die Grenzen Deutschlands hinauszudenken und veranstaltete und besuchte Events in Deutschland und Frankreich. Ich überlegte ein lokales Büro in Paris zu eröffnen, doch leider denkt die Administration des EU-Parlaments bisher noch nicht europäisch genug und dieses Projekt konnte nicht genehmigt werden. Der internationale Austausch wurde unter anderem über Seminare mit der Heinrich-Böll-Stiftung der Büros Brüssel und Paris weitergeführt.
Heute steht fest, dass ich im Dreiländereck in Freiburg mein zweites Europabürobüro vor Ort eröffne.
Irene, meine neue Mitarbeiterin vor Ort, streckt bereits Ihre Fühler aus. Da ich mich auch für die Beziehung EU-Schweiz in der offiziellen Delegation stark mache ist der Standort einfach traumhaft!
Dienst an der Demokratie
Die Rituale der Plenarsitzungen in Strasbourg, die Ausschuss-, Delegations- und Fraktionsarbeit in Brüssel und die Wege dazwischen mussten erstmal vertraut werden. Im Oktober folgte die Fraktionsklausur der 74 Grünen Abgeordneten, die in London stattfand. Durch den damals bevorstehenden Brexit war die Stimmung in Großbritannien aufgeheizt. Begegnungen vor Ort mit Extinction Rebellion, die dort großflächig demonstrierten, erlaubte den Austausch mit Umweltaktivisten. Im November 2019 fuhr ich mit meiner Mitarbeiterin Bianca nach Bremen, wo ich auf der internationalen Konferenz „Economy of the Common Good“ (zu deutsch: Gemeinwohlökonomie) referierte, und wo wir uns mit Wissenschaftler*innen austauschten und neue Kontakte im Bereich der sozial-ökologischen Wirtschaftkonzepte knüpfen konnten. Im Januar 2020 reiste ich mit Constantin nach Berlin und wir eruierten mit den vielen Kolleg*innen des Bundestags wie wir zu den Themen Wiederbelebung der Nachtzüge, mehr europäischer Zusammenarbeit, ökologischer Forstwirtschaft, Artenschutz und Stärkung der Kommunen strategisch gemeinsam arbeiten werden.
Neuer Wahnsinn – neue Normalität
Bis dahin hatte ich mich ganz gut an die Interviews und das lockere Sprechen vor der Kamera gewöhnt und es begann sich eine gewisse Normalität zu bilden. Ich lud die ersten Besuchergruppen nach Brüssel ein, um ein gegenseitiges Kennenlernen zu ermöglichen und um vielen Baden-Württembergern das Arbeiten des Europäischen Parlaments näher zu bringen. Ich lebte nun gekonnt aus dem Koffer und begann endlich wieder Yoga, Tanzen und Laufen als feste Bestandteile in mein bewegtes Leben zu integrieren.
Der Kontakt und Grüne Austausch zwischen dem Ländle und der EU liegt mir sehr am Herzen, da Kommune und EU sich so wunderbar ergänzen. Deshalb freue ich mich viel vor Ort zu sein, Schulklassen, Landwirt*innen, Unternehmen, Vereine und Grüne Arbeitskreise zu besuchen und einen regen Austausch mit den Stadträt*innen, der Landesregierung und den Bundestagsabgeordneten zu pflegen. Nur wenn Politik gut verwurzelt ist kann sie nach den Sternen greifen!
Das wöchentliche Pendeln zwischen Brüssel und Stuttgart, mit einem monatlichen Abstecher in Strasbourg, Termine in Paris, Bremen, Berlin oder Freiburg und in ganz Baden-Württemberg waren nicht nur wahnsinnig zeitintensiv, sondern auch nervlich manchmal belastend. Ausfallende Züge oder Verspätungen im Bahnverkehr, wenig Zeit für meine Familie in Stuttgart waren regelmäßige Herausforderungen, denen ich mich immer wieder stellen musste.
Durch die Corona-Pandemie, mit der keiner gerechnet hatte, ist eine neue Phase angebrochen. Doch statt weniger wurde die Arbeit anders. Zwar konnte ich nun meine Familie mehr sehen, doch meist nur zum Abendessen, da davor Telekonferenzen und online-Ausschusssitzungen stattfanden. Drei sehr erfolgreiche Webinare zu meinen Themen GWÖ, Mobilität und Biodiversität konnte ich gemeinsam mit interessanten Gästen durchführen. Diese Erfahrung hat mir gezeigt, dass trotz Grenzschließungen ein gemeinsames Politik machen in und für ein offenes Europa möglich ist.
Ich freue mich und bin gespannt was das nächste Jahr für mich bereithält. Dieses Jahr hat mir gezeigt, dass es sich lohnt dran zu bleiben, dass ein europäisches Umdenken zu mehr Nachhaltigkeit und neuen Lebensformen möglich scheint.
Es ist an uns den „Green Deal“ zu gestalten, sodass er seinen Namen verdient.
Ich möchte mich bedanken bei allen Gesprächspartnern, Kolleg*innen, Journalist*innen, Wissenschaftler*innen, meinem wunderbaren Team und meiner Familie für die Geduld, jede spannende Begegnung, für die lehrreichen Erfahrungen und unvergesslichen Momente.
Ich halte fest – ich freue mich auf das, was kommt!