Ich bin in dir und in deinem wunderschönen Multikulturalismus mit drei Nationalitäten groß geworden. Und da war ein unglaublich schönes Gefühl in mir: Freiheit. Ja, du hast mir wirklich viel Freiheit bereitet und ich habe sie genutzt.
Früher hätte ich nie gedacht, dass ich einmal so lange an einem Fleckchen Erde wohnen würde. Über 10 Jahre war ich in Stuttgart Stadträtin. Und ich war so stolz, dass wir es geschafft haben, dass Stuttgart Teil des Eurocities Netzwerkes geworden ist. Der europäische Zusammenhalt, Austausch, die Vielfalt der Sprachen, der Kulturen, der Kulinarik und der gemeinsame Wunsch nach Frieden, nach gemeinsamen Projekten der Zukunftsgestaltung– das hat mich immer an dir angezogen.
Letztes Jahr habe ich es dann – dank der Unterstützung meiner lieben Familie und vieler engagierter Menschen – ins Europa-Parlament geschafft. Am 9. Juli 2019 beschritt ich zum ersten Mal den Weg in mein Büro in Brüssel. Auf dem Rad durch Brüssel, ein kleines Abenteuer – denn von einer fahrradfreundlichen Stadt hat es wirklich nichts. Ich lernte mich in dem riesigen, ja fast labyrinthartigen Gebäude nach und nach zu Recht zu finden. Am 23. Oktober 2019 sprach ich mit Herzklopfen zum ersten Mal im Plenum in Straßburg.
Es ging wirklich schnell zur Sache mit großen Themen, wie z.B. dem Brexit. Am 30. Januar 2020 drückte ich zum letzten Mal meine britischen Kolleg*innen…
Wenn mich meine Freunde und Nachbarn fragten wie mein neues Leben nun aussieht, sagte ich oft, dass ich das Gefühl habe immer unterwegs zu sein. In Zügen arbeitete ich, las ich und traf ganz unverhofft alte Bekannte. Mein Team suchte regelmäßig nach alternativen Verbindungen und versuchte den Terminkalender an meine neuen Ankunftszeiten anzupassen. All, das wirkt nun fremd, weit weg, wie ein anderes Leben.
Ich schreibe aus dem Homeoffice, aus einem neuen Arbeitsalltag. Natürlich mit neuen Herausforderungen, aber auch neuen Chancen. Wir haben mit unseren digitalen Veranstaltungen viele Menschen erreicht. Die Kultusminster-Konferenz für pädagogischen Austausch wurde sogar auf die Videokonferenz zwischen der ErasmusPlus Schülergruppe aus Rutesheim, Litauen, Nordmazedoniern und mir aufmerksam. Der europäische Austausch ging und geht weiter! Ich besuchte Klassen, Studenten, traf mich virtuell mit Kollegen und Forschenden.
Tolle Projekte und Vernetzungen sind in Gang gekommen, wie z.B. in unserem Webinar „Gemeinwohl auf dem Teller – Ernährungssicherheit neu gedacht“ mit Christian und Michael Hiß sowie Emilie Fus von der Regionalwert AG Freiburg. Auch eine wissenschaftliche Publikation von mir und meiner Mitarbeiterin ist auf dem Weg: ein Aufruf für transformative Forschung für die Landwirtschaft, damit sozial-ökologische Bilanzierungen künftig die Grundlage werden für die Verteilung öffentlicher Gelder. Ein großer Erfolg war nicht zuletzt das Webinar „Biodiversität 2020 – Was wird aus dem Aufbruch für die Artenvielfalt?“ mit MdEP Sven Giegold, Dirk Steffens (Moderator von Terra X) und Raphael Weyland (NABU). 6000 Menschen haben live zugesehen und viele haben sich eingebracht.
Morgen bin ich ganz gespannt auf die Diskussion „Mobilität in der Corona-Krise – Verkehrswende jetzt erst recht“ mit Mira Kapfinger, Katja Diehl und Jon Worth. Und an deinem Ehrentag, am 9. Mai, liebes Europa, diskutiere ich mit MdL Muhterem Aras, MdEP Michael Bloss und MdB Franziska Brantner „Europa in Zeiten von Corona“. Ja, dein Ehrentag steht diesmal unter einem ganz anderen Stern.
Liebes Europa, du bist krisengeplagt, du hast einiges durchgemacht, du definierst dich stetig neu, du wirst angefeindet und geliebt, du wirst ersehnt und idealisiert, du gibst Schutz und gleichzeitig sind an deinen Grenzen oft die letzten Schritte und Atemzüge vieler Menschen. Ja, Europa wir haben viel zu bereden, zu verbessern und zu gestalten. Den Grundstein für diese Neugestaltung haben wir im Parlament im Januar 2020 mit dem Beschluss zur Konferenz zur Zukunft Europas gelegt. In dieser Konferenz werden EU-Bürger und Bürgerinnen bei der EU-Reform mitreden!
Wir bleiben dran, denn wir wissen, dass es alle Mühe wert ist. Wir haben vor Augen, was du noch alles sein kannst! Und wir wissen, dass es da draußen eine neue Generation gibt, die richtig Druck macht für Neues und die Ideen mitbringt. In diesem Sinne, bleib nicht wie du bist – aber bleib uns erhalten als gemeinsames Projekt!