EU-Politik und Unternehmen im Gespräch
Die Krise schreit nach Wandel
„Wir kommen aus einer sehr tiefen Krise, die uns am Anfang emotional und auch insgesamt in unseren Tagesabläufen sehr erschüttert hat. Es gab große Ängste und auch Staunen wie manche Regierungen fähig sind zu handeln in der Krise. Es gab aber zugleich auch Hoffnung. Denn eine Krise ist auch eine Chance, um Wandel herbeizuführen. Wir merken aber auch, die Dinge werden sich nicht von alleine ändern. Wir müssen uns fragen: In welcher Welt wollen wir leben? Und wie muss sich dementsprechend unser Wirtschaften ändern?“ frage ich in die Runde und blicke in erwartungsvoll gespannte Gesichter.
Am 20. Juli, eröffnete ich damit den Livestream zum Thema: „Post-Covid-19 Economy“. Gemeinsam mit meiner Kollegin aus dem Europäischen Parlament, Henrike Hahn, Antje von Dewitz, der Geschäftsführerin von VAUDE und Oliver Viest, dem Geschäftsführer von em-faktor wollten wir über ein System sprechen, welches das Potenzial hat, unsere Wirtschaft in der Krise aufzufangen. Über unsere Bildschirme waren wir im Livestream miteinander verbunden und konnten uns zur Gemeinwohlökonomie austauschen. Aufgrund von technischen Schwierigkeiten mussten wir mit ein paar Minuten Verspätung starten, doch unsere Zuhörer*innen blieben uns treu. Danke, an dieser Stelle!
Weshalb brauchen wir die Gemeinwohlökonomie?
Zur Einführung in das Thema der Gemeinwohlökonomie, stellte ich zusammenfassend das Konzept des alternativen Wirtschaftssystems vor: Die Gemeinwohlökonomie (GWÖ) sieht ein Wirtschaftssystem vor, bei dem der Mensch, mit all seinen Kenntnissen und Bedürfnissen, im Mittelpunkt steht, anders als im jetzigen System, das Kapital oder der Profit eines Unternehmens. Unternehmen können sich bilanzieren lassen, das heißt sich in allen Bereichen, die sozial-gerechtes und ökologisch-nachhaltiges Handeln voraussetzen. Diese Grundwerte sind in Menschenwürde, Solidarität und Gerechtigkeit, Ökologische Nachhaltigkeit, Transparenz und Mitentscheidung, einzuteilen. Kurzum, die GWÖ gibt einem Unternehmen die Chance, Ausbeutung von Mensch und Natur aus dem Weg zu gehen, als verantwortungsvoller und bewusster Akteur in der Welt zu wirtschaften. Was vielleicht im ersten Moment idealtypisch oder gar utopisch klingt, ist mit innovativen und gewillten Unternehmen, Schritt für Schritt, gut umsetzbar. Das zeigten auch unsere geladenen „Pioniere“.
VAUDE zeigt: Die Textilbranche kann mehr!
Antje von Dewitz, Geschäftsführerin eines mittelgroßen Familienunternehmens, des Outdoor-Ausstatters VAUDE, berichtet aus ihrer langjährigen Erfahrung: „Mit VAUDE sind wir Teil der Textilindustrie. Und damit sind wir auch Teil von ganz vielen globalen Herausforderungen.“ Gleich zu Beginn macht sie klar, dass ihre Branche nicht gerade als „sauber“ gilt. Von Dewitz fasst zusammen: „Die Textilindustrie ist eines der größten CO2 Emittenten, hat einen großen Ressourcenverbrauch durch den Einsatz von Chemikalien, Energie und großen Mengen an Wasser.“ Aktuell ist die Textilindustrie für jährlich 1,2 Billionen Tonnen CO2 verantwortlich – das ist insgesamt mehr als alle internationalen Flüge und Kreuzfahrten zusammen! Außerdem ist sie „der drittgrößte Produzent von Mikroplastik,“ führt von Dewitz fort. „Die Mitarbeitenden erleben teils prekäre Arbeitsbedingungen, da 90% aller Textilien in Asien hergestellt werden. Die massive Überproduktion der letzten 20 Jahre, in der sich global die textile Bekleidungsproduktion verdoppelt hat, verschlimmert das Ausmaß zusätzlich. Unter diesen Bedingungen sauber wirtschaften zu können scheint fast unmöglich zu sein. Doch von Dewitz bleibt dennoch positiv: „Wir sind in allen Themen irgendwie drin. Unsere Haltung ist, dass wir annehmen, dass wir Teil eines Problems sind, dass wir aber auch Teil der Lösung sein möchten.“
Sie will es anders machen und beweisen, dass Wirtschaften in der Textilbranche auch anders geht. Von Dewitz spricht dabei vor allem von einem – von unternehmerischer Verantwortung. „Unternehmerische Verantwortung bedeutet für mich, dafür zu sorgen, dass die Auswirkung meines Handelns niemandem Schaden zufügt, sondern im Gegenteil, am besten dem Gemeinwohl nutzen kann.“ Dass das nicht leicht ist, weiß sie aus eigener Erfahrung. Doch sie will sich der Herausforderung stellen: „Es ist verdammt schwierig in diesem System Verantwortung zu übernehmen. Es wird dir echt schwer gemacht, denn es ist ein großes Risiko, wir haben deutliche Mehrkosten durch teurere Materialien, durch Audits, durch mehr Personal.“ Doch was sie dadurch erreicht, ist beeindruckend. VAUDE wird durch das geprüfte Umweltmanagementsystem EMAS begleitet, die die Herstellungsprozesse ständig überprüfen und neu bewerten, um sicherzustellen, dass die Arbeitsbedingungen gut und fair sind. Obwohl VAUDE auch zu 80% in Asien produziert, werden auf Mindeststandards geachtet durch Lables wie FairWear, die die Produktionsketten begleiten. Das Unternehmen investiert in Forschung und ist zusätzlich klimaneutral am Hauptstandort in Tettnang in Oberschwaben am Bodensee. „An allen Ecken und Enden schrauben wir, wie wir ein Unternehmen mit Verantwortung sein können.“ Auf höchstem Niveau wird nun die neue grüne Kollektion „green shape“ produziert. „So sind wir, Schritt für Schritt, in allen Bereichen in denen wir eine Wesentlichkeit haben und wir finden neue Wege, wie wir das ökologisch und fair machen können,“ so von Dewitz. Sie führt fort: „Wir sind auch Mitglied der Gemeinwohlökonomie, um ein politisches Statement zu setzen. Es ist augenöffnend darüber nachzudenken: Wem soll denn die Wirtschaft eigentlich dienen? Dem Profit oder uns allen? Und da bin ich einfach ganz klar bei: Uns allen! Eine Gemeinwohlbilanz drückt am ehesten aus wo meine unternehmerische Verantwortung ist und wie ich die wahrnehmen kann,“ beendet sie ihr leidenschaftliches Statement.
Der Green Deal als Wegweiser
Meine Grüne Kollegin, Henrike Hahn, die bayerische EU-Abgeordnete ist, nickt zustimmend, denn sie weiß als Unternehmensberaterin auch wo die Misere des Systems liegt: „Wir befinden uns in einem Spannungsbogen, in einer Welt, in der Gewinnmaximierung als Prämisse der Wirtschaft angegeben wird. Die Gemeinwohlökonomie stellt das in Frage und fragt auch: Kann all das Wirtschaftswachstum uns dahin führen wo wir eigentlich hinwollen?“ Wenn der Mensch im Zentrum unseres Tuns stehen soll, so brauchen wir eine nachhaltige Wirtschaft, das ist für Hahn glasklar. Wie können wir auf europäischer Ebene dafür sorgen, dass nachhaltig investiert wird? Die GWÖ in Verbindung mit niedrigeren Steuersätzen für nachhaltiges Wirtschaften, könnten realistische Anreize für Unternehmen in Europa sein, um einen Wandel herbeizuführen. Wenn wir den Green Deal, der Europäischen Kommission erreichen wollen, so müssen wir innovativ denken. Hahn berichtet aus ihrer Arbeit im Wirtschafts-, Industrie-, und Haushaltsausschuss im EU-Parlament. Im Wirtschaftsausschuss (ECON) ist sie Berichterstatterin für den Fonds für einen gerechten Übergang, den Just Transition Fund. Ein Ziel des Green Deals ist die Dekarbonisierung der Industrie, um die bis 2050 angestrebte Klimaneutralität zu erreichen. Der Just Transition Fund kann dabei helfen, bestimmte Regionen Europas fördern, die besonders hart von den Umsetzungen des Green Deals betroffen sein werden (Kohleabbaugebiete, etc.). Transformation muss den ökologisch-sozialen Kriterien genügen und es ist dabei auch essentiell, dass alle Menschen dabei mitgenommen werden. Wie Hahn sagt: „Kein Mensch darf zurückgelassen werden.“
In Ihrer Rolle im Wirtschaftsausschuss, hat sie die Möglichkeit darüber mitzuentscheiden wie die Gelder vergeben werden und welche Bedingungen gesetzt werden sollen. Beispielsweise setzt sie sich für eine Gender Perspektive ein, für Fortbildungsmaßnahmen und möchte dabei vor allem auch soziale Rechte stärken. Die GWÖ kann hier ein wichtiger Katalysator sein. „Wie kann man in der Gesellschaft mehr verankern, dass man von einem anderen großen Referenzrahmen ausgeht? Also, dass es nicht nur um Wirtschaftswachstum geht, sondern wie kommt man da zunehmend auch in eine andere Richtung?“ fragt Hahn. Wir müssen ein Bewusstsein dafür schaffen, wie wir produzieren, wie es GWÖ Unternehmen tun und welche Alternativen damit aufgezeigt werden. Unsere Gesetze müssen das berücksichtigen. „Viele Unternehmer*innen wollen ihren Produktionsprozess umstellen, wir müssen dafür Möglichkeiten schaffen, hin zu einer Kreislaufwirtschaft, einer Wirtschaft, die auch die Umwelt schützt. Um da hinzukommen, das geht im Grunde nur gemeinsam.“
em-Faktor: Nachhaltig von A-Z – das geht!
Oliver Viest, Geschäftsführer von em-faktor, einer Kommunikationsagentur mit 17 Mitarbeitenden mit Sitz in Stuttgart und Frankfurt, sieht das ganz ähnlich. Als erstes gemeinwohlbilanziertes Unternehmen in Stuttgart war er als Sozial-Unternehmer von Anfang der Bewegung ganz vorne mit dabei. Neben klassischen Dienstleistungen im Kommunikationsbereich wie etwa Corporate Design, Webgestaltung und die Markentransformationsberatung bietet die Agentur auch ein Nachhaltigkeitsmanagement für ihre Kund*innen an. Aus einem fast schon pragmatischen, jedoch auch sehr persönlichen Grund, fand Viest vor über 10 Jahren zur GWÖ. Er wollte Sinn in der eigenen Arbeit erfahren und etwas Positives beitragen und in dieser Welt hinterlassen. Diese Motivation führte ihn schließlich zur GWÖ. Die praktische Anwendung der Bilanzierung machte es verhältnismäßig einfach, über einen gewissen Zeitraum vollständig soziale und ökologische Bedingungen im Unternehmen zu schaffen. Er weiß: „Uns hat die GWÖ geholfen, zu refokussieren. Sie fragt ganz klar nach dem Gewissen der Unternehmer*innen.“ Doch Viest hat hohe Ziele für sein Unternehmen. Er hat sich mit den Nachhaltigkeitszielen (SDGs) der Vereinten Nationen befasst und sagt deshalb: „Alles was wir im Unternehmen tun, muss in mindestens eines der SDG-Ziele einzahlen. Das ist unser Anspruch.“
Dabei fragt er sich stets nach der Wirkung, die er erzielen kann. Stolz erzählt er, dass das Unternehmen klimaneutral ist. Er weiß, Emissionen reduzieren, neutralisieren und kompensieren, führt zur Klimaneutralität, wenn sie auch nachhaltig Energie beziehen und nachhaltige Lieferanten auswählen. Es ist schön zu hören, dass es Viest durch die Bilanzierung bewusst wurde, dass man mit Anwendung der GWÖ die eigene Wirksamkeit besser betrachten kann. Denn die eigene Wirksamkeit ist oft effektiver als man denkt. Die GWÖ schafft ein transparentes Unternehmertum und lässt auch demokratische Beteiligungs- und Entscheidungsprozesse zu. Dadurch ist es möglich ein Arbeiten auf Augenhöhe innerhalb des Unternehmens schaffen. Dennoch fällt auch nicht immer alles ganz leicht: „Die Mitentscheidungsfrage ist die größte Herausforderung in unserem kleinen Unternehmen,“ so Viest. Der Pionier der GWÖ will aber noch mehr: „Die GWÖ hat es geschafft, bei mir als Unternehmer Gedanken anzuregen, worüber ich mir sonst als Unternehmer keine Gedanken hätte machen müssen, weil ich als Unternehmer sonst vor allem Gewinn erwirtschaften sollte. Alles andere sind sonst softe Themen, die nicht von einem Unternehmer gefragt sind. Ich finde es aber sehr spannend zu fragen, ob meine eigenen Werte im Unternehmen vertreten werden. Das Problem des jetzigen Systems ist, dass man sich die Fragen, die die GWÖ stellt, nicht zwingend fragen muss.“ Aktuell kommt man aus einer reinen Unternehmerperspektive gut, ja vielleicht sogar noch besser durch, wenn man nur gewinnorientiert denkt und handelt. Und das ist das Kernproblem des jetzigen Systems.
Politik sollte Transparenz einfordern und Mut zur Veränderung haben
Die beiden erfolgreichen GWÖ-Unternehmer stellen damit auch ganz konkrete Forderungen an die Politik. Sie beweisen, dass Transparenz im Unternehmen nicht nur Verpflichtungen mit sich bringt, sondern auch eine Chance birgt. Diese Transparenz sollte Voraussetzung für Unternehmen sein, denn nur so können Konsument*innen über die Produkte und Dienstleistungen aufgeklärt werden und es kann auch Vertrauen zu ihnen aufgebaut werden (bspw. durch Labels). Ein verpflichtendes Reporting aller Unternehmen ab einer bestimmten Größe, sieht von Dewitz daher als ein absolutes Muss. Anreize für Unternehmen nachhaltig zu wirtschaften, können auch durch Steuersenkungen erzielt werden. Eine niedrigere Mehrwertsteuer für nachhaltige und bewusste Unternehmen muss her, für jene, die z.B. auch Reparaturen fördern und nicht den Kauf eines neuen Produkts und dadurch auch die Konsument*innen zu einem nachhaltigen Lebensstil animieren. Besonders in der produzierenden Textilbranche muss ein Wandel stattfinden. Striktere Verbote von Chemikalieneinsatz und Umweltschädigungen durch den Herstellungsprozess sollten eingeführt werden. Von Dewitz weiß aus eigener Erfahrung, dass durch Verbote wie diese letztlich Innovation entsteht, denn Alternativen müssen gefunden werden und das ist auch möglich. Außerdem muss ein Lieferkettengesetz her, wodurch geregelt werden kann, dass Mindeststandards eingehalten werden.
Die GWÖ ist ein Konzept, das uns neue Möglichkeiten gibt und scheint wie ein Licht am Ende des Tunnels. Wenn wir gewillt, mutig und innovativ sind wie Oliver Viest und Antje von Dewitz und viele Unternehmen, die sich auf den Weg gemacht haben, können wir gemeinsam und Schritt für Schritt, einen Wandel erreichen.