Kürzlich war ich wieder in den rumänischen Karpaten, dort, wo der Wald so uralt und feucht ist, dass meist Nebel über den Wipfeln wabert. Unten, im schlammigen Boden, bilden sich Pfützen, in denen Bergmolche schwimmen, dazwischen hinterlassen Bären ihre Spuren. Leider auch zu sehen: tiefe Furchen von Treckern, die offensichtlich hier aus dem Naturschutzgebiet Stämme gezerrt haben. „Nur Totholz”, versichern die Förster. Doch das ist oft der Anfang einer intensiven Forstwirtschaft – und das Ende von Jahrtausenden alten Ökosystemen.
Beim Thema gefährdeter Urwald denken die meisten wohl an den Amazonas. Aber wir in der EU besitzen selbst kostbare Urwälder und insgesamt sehr viel Wald: Immerhin 40 Prozent der Landfläche ist damit bedeckt. Nun stehen wir vor der riesigen Aufgabe, eben jene Wälder samt Artenvielfalt zu retten, sofern sie noch existiert. Satellitenaufnahmen verdeutlichen, dass die Wälder oft Flickenteppiche sind statt zusammenhängender Flächen. Etliche Flicken werden so stark bewirtschaftet, dass sie eher Plantagen gleichen. In Finnland und Estland emittieren die Wälder sogar CO2. Da wabert nichts mehr.
Am Beispiel Rumänien lässt sich gut zeigen, warum wir dringend bessere, europaweite Vorschriften brauchen, damit nicht noch mehr Wälder ihre Funktionen als echter Wald verlieren und aufhören, als Luftproduzent sowie Wasserfilter zu fungieren.
Die EU hat bereits im Februar 2020 gegen den rumänischen Staat ein Verfahren wegen der Verletzung der so genannten Natura 2000-Vorschriften angestrengt. Als ich den rumänischen Umweltminister danach fragte, antwortete er, das Schutzziel sei nicht von einer „sanften Forstwirtschaft beeinflusst”. Er verwies mich auf ein rumänisches Gesetz, was „progressive logging” erlaube, eine angeblich „fortschrittliche” Waldwirtschaft, bei der nach und nach ein Stück Wald gelichtet wird, sprich: in Teilen abgeholzt. Das ist eine klassische Bewirtschaftungsmethode, bei der normalerweise Bäume von allein nachwachsen. Doch in Rumänien beeilt man sich damit so sehr, dass es vielerorts nach Kahlschlag aussieht, dieser brutalsten aller Erntemethoden.
Dabei stirbt der Waldboden samt Wurzeln und Mikroorganismen, die Fläche wird für Jahrzehnte zum CO2-Emittenten. Dennoch sind Kahlschläge in vielen Ländern (Schweden und Frankreich!) eine gängige und legale Methode. Höchste Zeit, dass wir eine Reihe von europaweit verbindlichen Standards und Kontrollmechanismen verabschieden. Es darf nicht sein, dass in manchen Ländern sogar Holzvollernter in Natura-2000-Gebiete reinbrettern. Aber auch „normale” Wälder, also solche, die bewirtschaftet werden, brauchen Schutz. Wir müssen Kahlschläge und alles, was danach aussieht, generell verbieten.
Damit Verstöße überhaupt geahndet werden können, benötigen wir zudem eine sogenannte Wald-Monitoring-Verordnung. Dazu will die Kommission noch dieses Jahr einen Vorschlag machen. Dann hätten wir in Europa zumindest Daten, um den Zustand der Wälder zu vergleichen. Wir wüssten, wo genau welche Baumarten wachsen, wie alt/hoch/breit diese Bäume sind und wieviel Totholz und Feuchtigkeit im Wald steckt. All das gibt Aufschluss darüber, wieviel der Waldbesitzende für Klimawandel und Biodiversität tut beziehungsweise unterlässt.
Ich weiß, dass deutsche Waldeigentümer schlucken, wenn sie von mehr Regulierung lesen. Wir in Deutschland haben bereits recht starke Landes- und Bundeswaldgesetze. Im Vergleich zu den Landwirten haben die Waldbesitzenden hierzulande allerdings noch viele Freiheiten. In der Regel nutzen sie diese verantwortungsvoll, auch weil hier – anders als in Rumänien – der wirtschaftliche Druck nicht so groß ist. Aber das reicht nicht. Unsere Wälder brauchen mehr Zeit, sich zu erholen, auch von Jahrzehnten der Fichtenmonokultur. Es muss sich für Waldbesitzer lohnen, den Wald noch behutsamer zu bewirtschaften. Dazu zählt, Bäume einzeln zu entnehmen, anstatt Baumgruppen abzuernten, oder sogar nichts zu tun und sich dafür kompensieren zu lassen.
Von EU-weiten Standards für die Waldwirtschaft werden gerade die Deutschen profitieren. Derzeit ist es ja so, dass wir im gleichen Binnenmarkt Holz verkaufen wie Länder, die riesige Kahlschläge machen dürfen. Dort sind Ernte und Logistik logischerweise viel billiger. Ich bin erstaunt, dass sich darüber nicht mehr Waldbesitzende in Deutschland beklagen.
Dafür ist gerade der Unmut groß, dass wir eine Verordnung für entwaldungsfreie Lieferketten verabschiedet haben. Damit wollten wir sicherstellen, dass nur Holzprodukte auf den Markt kommen, für die kein Wald dauerhaft abgeholzt wurde. Zu kompliziert, zu bürokratisch heißt es. Kann es zu kompliziert sein, den Wald zu retten?
Offenbar. Ich bin geschockt, wie groß auch der Widerstand dagegen ist, ein Gesetz zur Wiederherstellung der Natur zu formulieren, entsprechend einem Vorschlag der Kommission. Es sähe vor, dass wir 20 Prozent der Landes- und Meeresflächen wieder in einen naturnahen Zustand bringen. Es wäre das wichtigste Naturschutzgesetz seit 30 Jahren, die europäischen Wälder bräuchten es dringend. Doch derzeit kämpfen wir Grünen im Europaparlament gegen den Widerstand von Liberalen, Konservativen und Rechtsextremen darum, dass das Gesetz überhaupt ausgearbeitet wird.
Was muss noch passieren, damit wir verstehen, dass Natur- und Waldschutz kein lästiges Detail des Green Deal ist? Schon jetzt brennen im Süden Europas die Wälder, Studien zeigen, dass die Brände sich immer weiter in unsere Breiten hineinverschieben. Ganze Landschaften trocknen aus. Wir brauchen in Zeiten der Klimaerwärmung erst recht Wälder mit geschlossenen Baumkronen und waberndem Nebel. Doch der Holzhunger und die Maschinen fräsen überall in Europa immer mehr Schneisen in die Wälder. Durch die pfeift der Wind, und der facht das Feuer an wie ein Blasebalg.
Ich habe in Rumänien erfahren, dass mich die Förster als EU-Abgeordnete und Forstwissenschaftlerin erst ernst nehmen, wenn ich mich über einen reißenden Fluss wage und Hunderte Höhenmeter hinauf und etliche Kilometer tief in den Primärwald hineindränge, um selbst noch einmal dieses Wunder zu erleben. Ich werde nun erst recht dafür kämpfen, dass unsere Gesetzgebung auch in die abgelegensten Winkel in Europa vordringt. Damit alle anderen den Wald dort in Ruhe lassen.