- Schweiz = Mitglied des Schengenraums, der EFTA (Europäischer Freihandelszone), kein Mitglied des EWR (Europäischer Wirtschaftsraum). Bis 2014 war die Schweiz auch Vollmitglied von Erasmus+.
- EU-CH Personenfreizügigkeit: 1,4 Mio EU-Bürger*innen leben in der Schweiz; 450 000 Schweizer*innen in der EU; Grenzüberschreitende Mobilität: 320 000 Grenzpendler*innen/Tag.
- Neues EU-CH Abkommen seit 2014 verhandelt, seit 2018 auf dem Tisch. Seither warten wir auf grünes Licht aus der Schweiz.
- Die Schweizer Grünen sind auch Mitglied der Europäischen Grünen Partei (EGP)
Die großen Herausforderungen unserer Zeit stellen uns in Europa vor grundlegende Entscheidungen: In was für einer Welt wollen wir leben? Dies führt uns zurück zu der Frage, in welcher Welt leben wir eigentlich heute? In den vergangenen Jahrzehnten hat sich die EU erweitert und die Zusammenarbeit vertieft, sowie eine enge Partnerschaft mit Nachbarländern wie der Schweiz entwickelt. Unsere Zusammenarbeit mit der Schweiz steht jedoch heute an einem Scheideweg. Durch den stillstehenden Prozess um das neue EU-CH-Rahmenabkommen (Institutionelles Abkommen oder InstA) stehen zahlreiche bestehende Kooperationen auf dem Spiel und auch neue Abkommen werden blockiert. In Zeiten der Klimaerwärmung, der Coronakirse und des Brexit ist unsere enge Beziehung und Partnerschaft mit der Schweiz vielleicht etwas in den Hintergrund gerückt, dabei es heute umso wichtiger, sie zu stärken und zukunftsfähig zu gestalten für die Welt von morgen!
EU und Schweiz sind natürliche Partner
Die Schweiz ist eng mit der EU verbunden, sowohl geographisch, politisch, wirtschaftlich als auch kulturell. Es gibt unzählige grenzüberschreitende Projekte und Bildungs- und Forschungskooperationen. Durch die Personenfreizügigkeit1 im Schengenraum (dem neben 25 EU-Ländern u.a. auch die Schweiz angehört) werden unsere Gesellschaften weiter vernetzt; seit 1960 ist die Schweiz Teil der Europäischen Freihandelszone (EFTA); die Mobilität (320 000 Grenzpendler*innen/Tag) und die Handelsbeziehungen2 zwischen beiden Ländern sind immens. Die Schweiz teilt die europäischen regionalen und weltweiten Herausforderungen mit der EU.
Ein konkretes Beispiel der Vernetzung: Die Schweiz, im Herzen Europas liegend, in das europäische Verkehrsnetz einzubinden, erscheint selbstverständlich, jedoch müssen einige „administrative Hürden“ überwunden werden: Sowohl die EU als auch die Schweiz setzen sich stark dafür ein, dass der grenzüberschreitende Bahnverkehr möglichst hindernisfrei funktioniert; seit 2015 hat die Schweiz die Mitgliedschaft bei der Europäischen Eisenbahnagentur (ERA) in die Wege geleitet. Seit einem Jahr müssen für Lokomotiven, Triebzüge und Bahnwagen, die in mehreren Ländern (inkl. Schweiz) eingesetzt werden sollen, nur noch einen einzigen Antrag für die Zulassung einreichen, und zwar an die Eisenbahnbahnagentur der EU (ERA). Zuvor mussten für die Schweiz separate Zulassungen beantragt werden.3
Die EU-Schweiz-Beziehungen basieren heute auf über 120 bilateralen Abkommen. 1997 wurde ein Paket von sieben sektoralen Abkommen (“Bilaterale I”) unterzeichnet, 2004 wurde eine zweite Reihe von Abkommen (“Bilaterale II”) geschlossen4. Daraus ergibt sich ein komplexes Beziehungskonstrukt, das von Dutzenden Ausschüssen und Untergruppen verwaltet wird.
EU-Schweiz Rahmenabkommen: Eine „dynamische Aktualisierung“, dem es gerade an Dynamik fehlt.
Um die Beziehungen auf den neusten Stand zu bringen und Kohärenz zu schaffen, wird seit 2014 an einem Rundumschlag dem “Institutionellen” Abkommen oder „InstA“ gearbeitet. Ziel ist eine übergreifende, „dynamische Aktualisierung“ der Beziehungen, in der sowohl bestehende Abkommen (Personenfreizügigkeit, Landverkehr, Luftverkehr, technische Handelshemmnisse und Landwirtschaft) umfasst, als auch Raum für zukünftige Abkommen (z. B. das derzeit in Verhandlung befindliche Stromabkommen oder ein mögliches Gesundheitsabkommen) eröffnet. Neuheiten des Abkommens sollen u.a. die institutionellen Mechanismen (Rechtsentwicklung, Überwachung, Rechtsauslegung, Streitbeilegung) sein. Ende 2018 wurden die Verhandlungen abgeschlossen und es liegt ein Vertragsentwurf auf dem Tisch. Seither stockt der Prozess seitens der Schweiz, dessen Bundesrat den Entwurf bisher nicht billigte. Dieser führt seit nun schon fast zwei Jahren zu „intensiven innenpolitischen Konsultationen, um in einzelnen Punkten des Textentwurfes Klärungen vorzunehmen“.5
Es geht um Souveränitätsfragen, faire Löhne, Staatsbeihilfen, Unionsbürgerrichtlinie
Derzeit gibt es mehrere Hindernisse für die Ratifizierung des Institutionellen Abkommens durch die helvetischen Kolleg*innen. Es geht um Fragen des Schutzes der Schweizer Lohn- und Arbeitsbedingungen (auch: Reform Flankierende Maßnahmen oder FLAM6), um Regelungen zu Staatsbeihilfen, und auch die Umsetzung der Unionsbürgerrichtlinie als Ergänzung der Personenfreizügigkeit7. Zusicherungen hatte die EU bereits im Juni 2019 gegeben (hinsichtlich der Lohn- und Arbeitsbedingungen) und parallel dazu Richtlinie über die Entsendung von Arbeitnehmern überarbeitet („gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort“), die das Prinzip des Lohnschutzes bekräftigt sowie eine Europäische Arbeitsbehörde errichtet. Manche Schweizer*innen äußerten auch Bedenken bei der Souveränitätsfrage. Diese Frage ist nicht neu (sie war auch schon 1992 bei Ablehnung der Schweizer*innen zu einem EU-Beitritt ein Thema). Klar, ist die EU entscheidet nicht einseitig über ihre Beziehung zur Schweiz, zu einer Beziehung gehören zwei, die sich seit 2014 an einen Tisch setzen, um ein umfangreiches dynamisches Abkommen zu verhandeln.
Wir brauchen einen offenen Dialog, in dem die grundlegenden Interessen und Prioritäten beider Seiten klar ausgesprochen und berücksichtigt werden können.
Die Zeit drängt! Einige bestehende bilaterale Abkommen laufen aus…
Gleichzeitig laufen einige bestehende bilaterale Abkommen aus, deren Erneuerung von der Abschließung des Rahmenabkommens abhängt: Im Juni 2020 lief das Abkommen zur Börsenäquivalenz aus, Ende 2020 würde die Schweiz im Rahmen von „Horizon Europe“ (EU-Forschungsprogramm) zu einem Drittstaat „heruntergestuft“, im kommenden Jahr würden Abkommen zur Äquivalenz von medizinischen Produkten sowie zu Maschinenbauteilen auslaufen. Zudem liegt aktuell die Wiederaufnahme der Schweiz in das Erasmus+-Programm auf Eis (in dem sie seit 2014 kein Vollmitglied mehr ist). Auch neue Abkommen, wie ein Stromabkommen (in die Wege geleitet) oder ein mögliches Gesundheitsabkommen (das für eine Verknüpfung der Corona-Apps notwendig wäre) können nicht ohne das Rahmenabkommen abgeschlossen werden.
Weg frei für Abschließung des EU-CH Abkommens!
In einem Referendum vom 27.09.2020 bekräftigten die Schweizer*innen, die Personenfreizügigkeit zwischen der EU und der Schweiz beibehalten wollen – eine klare Bestätigung, dass sich eine Mehrheit der Schweizer*innen mit ihren europäischen Nachbarländern verbunden fühlt! Auch in Zeiten der Coronakrise (und des 1. Lockdowns, in dem nationale Grenzen kurzerhand geschlossen wurden) haben wir in der EU verspürt, wie wichtig das „Europa der offenen Grenzen“ eigentlich ist – keine Selbstverständlichkeit!
Mit Blick auf die aktuellen und anstehenden Herausforderungen erscheint eine enge Partnerschaft in Themen Klimaschutz, Gesundheitskooperation, Digitalisierung uvm. umso wichtiger und dafür müssen wir an einem Strang ziehen.
Brücken bauen – Europa verbinden durch Vermittlung
Als Mitglied des EU-Parlaments, als Grüne, Deutsch-Französisch-Schweizerin, überzeugte Europäerin und im „Dreiländereck“ lebend, sehe ich, wie wichtig die gemeinsame Zusammenarbeit und Vernetzung ist – sie ist schlicht ergreifend nicht wegzudenken. Deshalb möchte ich zur Vermittlung beitragen und mich für die baldige Einigung beim EU-CH-Rahmenabkommen als Grundlage einer zukunftsfähigen Zusammenarbeit einsetzen!
Im EU-Parlament arbeiten wir in der EFTA/Schweiz-Delegation8 für eine enge Partnerschaft zusammen. Beim vergangenen interparlamentarischen Treffen, am 9. Oktober bekräftigten wir EU-Parlamentarier den Aufruf für einen schnellstmöglichen Abschluss des bilateralen Rahmenabkommens erneut (basierend auf der EU-Parlamentsempfehlung vom 26. März 2019).9
In Zusammenarbeit mit der Schweizer Grünen Partei, die auch Mitglied bei der Europäischen Grünen Partei (EGP) ist, setzen wir uns für eine sozial-ökologische Wende, für ein friedliches, nachhaltiges und soziales Europa mit starken Grundrechten ein. Und auch hinsichtlich des EU-CH-Rahmenabkommens stehen unsere Positionen im Einklang: Wir setzen uns für den baldigen Abschluss des Rahmenabkommens ein, sowie unterstützen die Voraussetzung der „fairen Löhne und Steuerpolitik“, die auch für die europäische Zusammenarbeit grundlegend sind.
Voneinander lernen können wir auch bei den Themen Landwirtschaftspolitik, Tier- und Artenschutz. Während in der EU die neue Ausrichtung der Gemeinsamen Agrarpolitik eher ein „Weiter wie bisher“ bedeutet (mehr dazu: https://anna.deparnay-grunenberg.eu/2020/10/23/gap-schlag-ins-gesicht-unserer-kinder/ , kann uns die Schweizer Agrarpolitik in einigen Aspekten ein Vorbild sein: Knapp 15% der Direktzahlungen werden für Biodiversitätsschutz, knapp 18% für die Kulturlandschaft vorgesehen.10
Grenzüberschreitende Mobilität in Europa – Zusammenarbeit am Dreiländereck
Auch im Bereich der grenzüberschreitenden Mobilität wird die Vernetzung weiter vorangetrieben: Der trinationale Bahnverkehr und Nahverkehr im „Dreiländereck“ soll in den nächsten (15) Jahren ausgebaut werden.11 Dafür werden fünf Milliarden Euro in Strecken und Bahnhöfe in der Nordwestschweiz, Südbaden und im Elsass investiert und Basel zu einem homogenen Bahnknoten mit trinationaler S-Bahn entwickelt. Ein Streckennetz von 357 Kilometern, 40 Millionen Fahrgäste im Jahr und sieben Äste in drei Ländern, je drei in Südbaden und der Nordwestschweiz, einen im Elsass soll dadurch entstehen.
Liebe Schweizer*innen,
Wir in der EU sind bereit für die neue enge Partnerschaft und freuen uns, wenn Ihr es auch seid! Die anstehenden Herausforderungen warten nicht; nur gemeinsam können wir es schaffen, den tiefgreifenden „Wandel“ mit gemeinsamer Überzeugung und Kreativität zu meistern!
Weiterführende Links:
https://www.europarl.europa.eu/delegations/en/deea/activities/inter-parliamentary?tabCode=switzerland
https://stm.baden-wuerttemberg.de/de/service/presse/pressemitteilung/pid/kretschmann-spricht-mit-schweizer-bundesrat-parmelin/
Fußnoten:
1 1,4 Mio EU Bürger*innen leben in der Schweiz; 450 000 Schweizer*innen in der EU;
2 Die Schweiz ist viertgrößter Handelspartner der EU; andererseits ist die EU wichtigster Handelspartner der Schweiz mit 53,3% der Importe aus der EU und 40,9% der schweizer Exporte in die EU (Stand: 2019)).
3 https://www.admin.ch/gov/de/start/dokumentation/medienmitteilungen.msg-id-77557.html
4 Das 1. Paket bilateraler Verträge von 1999 betrifft die Personenfreizügigkeit, den freien Luft- und Landverkehr, das Beschaffungswesen, die Teilhabe der Schweiz an europ. Forschungsprogrammen, die Agrarwirtschaft und die Aufhebung der technischen Handelshindernisse. Das 2. Paket (2004) beinhaltet die Zusammenarbeit auf den Gebieten: Polizei und Justiz, Asyl und Migration, Zinsbesteuerung, landwirtschaftliche Verarbeitungsprodukte, Betrugsbekämpfung, Statistik, Umwelt, Renten, Mediaprogramme, Bildung, Berufsbildung und Jugend. Quelle: https://www.bpb.de/nachschlagen/lexika/das-europalexikon/177262/schweiz-und-eu
5 https://www.eda.admin.ch/dea/de/home/verhandlungen-offene-themen/verhandlungen/institutionelles-abkommen.html
6 https://www.seco.admin.ch/seco/de/home/Arbeit/Personenfreizugigkeit_Arbeitsbeziehungen/freier-personenverkehr-ch-eu-und-flankierende-massnahmen.html
7 https://www.foraus.ch/posts/die-unionsbuergerrichtlinie-i-ein-fakten-check/
8 https://www.europarl.europa.eu/delegations/en/deea/home
9 https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-8-2019-0241_DE.html
10 Agrarbericht Schweiz 2018: https://www.economiesuisse.ch/de/dossier-politik/wie-wird-die-landwirtschaft-der-schweiz-subventioniert
11 https://www.badische-zeitung.de/in-den-bahnausbau-im-basler-dreilaendereck-fliessen-milliarden