Der Krieg in der Ukraine stellt die EU vor großen Herausforderungen, auch im Bereich der Ernährungssicherheit. Die Ernährungswende kann uns helfen, aus dem Engpass zu schreiten.
- 12 % des auf dem Weltmarkt gehandelten Weizens, 16 % der Gerste, 15% des Maises, 16% des Raps, 50% des Sonnenblumenkernöls, 9% der Sonnenblumenkerne und 61 % des Sonnenblumenkernschrots stammen aus der Ukraine
- Die Ukraine ist Hauptlieferant der EU für Mais (durchschnittlich 9,2 Millionen Tonnen – 57% der Vorräte), Raps (2 Millionen Tonnen, entsprechend 42 % der europäischen Importe nach Volumen), Sonnenblumenkerne (0,1 Millionen Tonnen – 15 %) und Sonnenblumenkernschrot (1,3 Millionen Tonnen – 47 % der Importe) sowie in geringerem Umfang für Weizen (1 Million Tonnen – 30 % der Importe)
- Für 1kg Fleisch wird bis zu 17kg Getreide verwendet. Bis ein Tier als Steak oder Wurst auf unseren Tellern liegt, wurden enorme Massen an Ressourcen wie Land, Wasser, Energie und Getreide verbraucht. Ein Viertel der eisfreien Erdoberfläche wird laut FAO inzwischen für die Viehwirtschaft genutzt.
Der grausame Krieg in der Ukraine sorgt seit über einem Monat weltweit für Entsetzen. Das Ausmaß der humanitären Katastrophe vor Ort und das Leid der ukrainischen Bevölkerung ist jetzt schon unvorstellbar.
Doch dieser Krieg hat auch Folgen für Europa und die Welt. Die Wirtschaft bangt, denn Europa hat sich in den letzten Jahrzehnten massiv von russischem Erdgas und anderen fossilen Brennstoffen abhängig gemacht – nicht zuletzt, weil die Energiewende verschlafen, verschleppt und verhindert wurde. Die Scheu vor Investitionen in Zukunftsenergien kommt uns nun um ein Vielfaches teurer zu stehen.
Nicht nur auf die europäische Wirtschaft spürt bereits jetzt schon, wie abhängig sie von ukrainischen und russischen Importen ist. Auf sie entfallen etwa 30 % des weltweiten Weizenhandels. Die Ukraine allein beliefert 15 % des weltweiten Maismarktes. Russland ist andererseits ein wichtiger Exporteur von synthetischen Stickstoffdüngern und deren Bestandteilen. Das Gleiche gilt für Belarus, wo ein Großteil des Kalidüngers, herkommt der in der konventionellen Landwirtschaft großflächig zum Einsatz kommt.
Vor allem das Thema Lebensmittelsicherheit steht seit Beginn des Krieges immer wieder im Zentrum der Debatten. Die Lage auf den globalen Agrarmärkten wird immer angespannter. Schon vor der Invasion Russlands hatte der Lebensmittelpreisindex seinen höchsten Stand der letzten zehn Jahre erreicht. Durch den anhaltenden Krieg und die Sanktionen sind die meisten dieser Exporte nun zusammengebrochen. Das hat zu einer Explosion der Lebensmittelpreise und Produktionskosten geführt.
Die UN rechnet bereits jetzt mit einer schweren weltweiten Nahrungsmittelkrise, vor allem in vielen afrikanischen Ländern, aber auch im Nahen Osten. Schon 2021 waren die Nahrungsmittelpreise als Folge der Covid-Pandemie und extremer Trockenheit explodiert. Im Vorjahr war der afrikanische Kontinent mit Weizen, Mais, Speiseöl und anderen Grundnahrungsmitteln im Wert von 2,6 Milliarden Euro aus der Ukraine bzw. 3,6 Milliarden Euro aus Russland versorgt worden. Auch Ägypten beispielsweise bezieht 90 % seiner Weizenimporte aus der Ukraine und Russland, insbesondere zum Backen von Brot. Zurzeit liegt der Weizenpreis bei über 400 € pro Tonne. Das sind 100 € pro Tonne mehr als während der Lebensmittelkrise im Jahr 2008. Wenn die Preise weiter steigen, sind Länder wie Ägypten möglicherweise nicht mehr in der Lage, die Lebensmittelimporte zu bezahlen, auf die sie angewiesen sind.
Die Auswirkungen auf den Lebensmittelmarkt in Europa
Auch die Länder in der Europäischen Union bekommen die Preissteigerungen auf dem Weltmarkt zu spüren. Zum einen führt der Anstieg der Energiepreise auch in der Landwirtschaft zu erhöhten Produktionskosten. Der Unterschied ist jedoch, dass die EU ein Nettoexporteur von Agrar- und Ernährungsprodukten ist, also wir mehr Lebensmittel exportieren als importieren. Deshalb brauchen wir nicht akut eine Nahrungsmittelknappheit zu befürchten. Trotzdem führt der Angriff Russlands auf die Ukraine auch bei uns bereits zu einem starken Kostenanstieg in der Lebensmittelproduktion.
Für finanziell schwache Haushalte könnte das verheerende Folgen haben, zumal auch die Energiepreise noch weiter steigen dürften. Wir werden deshalb kurzfristige Maßnahmen brauchen, um uns vor diesen Auswirkungen zu schützen. Trotzdem darf Europa auch seine langfristigen Ziele und Strategien dabei nicht aus den Augen verlieren, sonst drohen uns ähnliche Krisen auch in Zukunft.
Wie können wir die Ernährungssicherheit in der EU gewähren?
Wir brauchen einen gut durchdachten Plan, der uns frei von Abhängigkeiten macht und unsere Ernährungssicherheit langfristig garantiert. Kurzfristig können wir jedoch auch einige Hebel in Bewegung setzen, um den Menschen global und bei uns in Europa zu helfen:
- Die EU sollte alles tun, um eine mögliche Versorgungskrise zu vermeiden. Die Europäische Kommission sollte alle auf EU-Ebene verfügbaren Vorräte bewerten und prüfen, wie diese mobilisiert werden können, um Probleme der Versorgung und Bezahlbarkeit zu lindern – insbesondere in Drittländern.
- Wir müssen der Spekulation auf den Agrarrohstoffmärkten Einhalt gebieten, um sicherzustellen, dass gefährdete Länder weiterhin Zugang zu den für ihre Bevölkerung notwendigen Nahrungsmitteln haben. Marktspekulationen, Manipulationen und der Handel mit Nahrungsmitteln können die Großhandelspreise künstlich in die Höhe treiben und zu Marktvolatilität führen. Bestimmte Praktiken wie Leerverkäufe oder Hochfrequenzhandel mit Nahrungsmitteln, die zu Marktmanipulation, Verdrängungspreisen und Gewinnstreben auf Kosten der Bedürftigen führen können, sollten verboten werden. Lebensmittel müssen zu allererst bei Menschen ankommen.
- Getreide muss wieder als menschliches Nahrungsmittel statt als Tierfutter verwendet werden. Während es aufgrund des Krieges in der Ukraine weltweit zu einer Verknappung von Lebensmitteln kommt, verfüttern wir unser Getreide weiter an Nutztiere. Ein großer Teil der von uns angebauten Pflanzen (60 %) wird nicht für die Ernährung der Menschen, sondern für die Viehzucht in Europa angebaut. Die EU produziert jährlich 160 Millionen Tonnen Getreide, die als Futtermittel eingesetzt werden. 10 Prozent davon sind 16 Millionen Tonnen – genau so viel Getreide exportiert die Ukraine derzeit in die Welt. Greenpeace bestätigt, dass wenn wir in Europa lediglich 10% weniger Tiere hätten, stünde uns automatisch so viel Weizen zur Verfügung, dass wir die gesamten Getreide-Exportausfälle der Ukraine ersetzen könnten. Es ist also höchste Zeit, endlich eine intelligente Eiweißstrategie umzusetzen, die sich vor allem auf pflanzliche Proteine (z.B. aus Hülsenfrüchten) konzentriert. So könnten ausreichend einheimische Futtermittel produziert und durch die damit einhergehende Stickstoffbindung der Einsatz von Düngemitteln reduziert oder sogar ganz ersetzt werden.
- Die Kommission sollte unverzüglich die Verwendung essbarer Kulturpflanzen für die Agrotreibstoffproduktion für mindestens zwei Jahre vorübergehend stoppen. Im Jahr 2021 produzierte die EU knapp 5 Milliarden Liter Bioethanol aus Pflanzen und 12,33 Millionen Liter Biodiesel aus Pflanzenölen. Dies entspricht 11 Millionen Tonnen Getreide und 8,6 Millionen Tonnen Pflanzenöl, die stattdessen für den Verzehr verwendet werden könnten. Es ist schwer zu vermitteln, wieso solche Mengen Lebensmittel nicht an hungernde Menschen gehen, sondern in Autotanks landen.
- Und wir benötigen dringend Maßnahmen gegen die immense Lebensmittelverschwendung. Allein in der EU werden jährlich 88 Millionen Tonnen Lebensmittel verschwendet. Dies entspricht umgerechnet einer Menge von 173 Kilogramm pro Person! Trotz vieler politischer Bekenntnisse der letzten Jahre, stellt der EU Rechnungshof fest, dass stärkere Maßnahmen notwendig und möglich sind, um diese immensen Lebensmittelverluste zu reduzieren.
Diese Forderungen können kurzfristig etwas Abhilfe schaffen. Wichtiger ist es dennoch, eine langfristige Strategie zu entwickeln, um unser globales Lebensmittelsystem nachhaltig zu gestalten.
Der Green Deal und die Farm-to-Fork-Strategie müssen unser langfristiger Kompass für die Ernährungssicherheit in der EU bleiben
Seit Beginn des Krieges in der Ukraine erleben wir einen koordinierten Angriff der Agrarindustrie auf die nachhaltige Lebensmittelpolitik der EU mit der Begründung, dass die Lebensmittelsicherheit gefährdet sei. Das ist gleich in doppelter Hinsicht perfide: Das Leid der Menschen in der Ukraine wird als klägliche Ausrede verwendet, um unliebsame Reformen zu unterbinden. Und gleichzeitig wird damit der Klimaschutz und Biodiversitätsschutz gefährdet, der dringend benötigt wird.
Dabei sind es vor allem die derzeitigen Praktiken der konventionellen Landwirtschaft, welche dazu geführt haben, dass unsere Lebensmittelproduktion so abhängig von Drittstaaten und dem Import von Düngemittel, Pestizide und Futtermittel ist. Der übermäßige Einsatz von synthetischen Pestiziden zur Förderung immer größerer Monokulturen führen zu einer ökologischen Katastrophe. . Nach Angaben des IPCC könnte bis zum Jahr 2100 ein Drittel der landwirtschaftlichen Nutzfläche aufgrund der Umweltzerstörung nicht mehr für den Anbau geeignet sein. Die Ziele der Farm-to-Fork-Strategie, den Einsatz dieser synthetischen Stoffe zu reduzieren, sind daher für unsere Ernährungssicherheit in nächster Zukunft besonders wichtig.
Der hart errungene Green Deal der EU, der vor allem mit der „Farm2Fork“ Strategie Klimaschutz und Ernährungssicherheit durch nachhaltigere Landwirtschaft garantieren soll, ist zurzeit ernsthaft in Gefahr. Die Europäische Kommission hat bereits das Gesetzesvorhaben zur Wiederherstellung der Natur und die Revision der Pestizidverordnung verschoben und die französische EU-Ratspräsidentschaft hat kürzlich angekündigt, dass sie gar die Farm2Fork-Strategie aussetzen möchte.
Unzählige weitere wissenschaftliche Studien, Sachverständigen-Gutachten und Äußerungen europäischer Institutionen, wie beispielsweise des Europäischen Rechnungshofes belegen, dass nachhaltige, langfristige Ernährungssouveränität und -sicherheit nur mit einer Ökologisierung des Agrarmodells möglich ist. Längst ist auch nachgewiesen, dass eine Verringerung des Pestizideinsatzes langfristig keine negativen Auswirkungen auf die Ernteerträge hat. Es wäre also nicht nur ein historischer Fehler, wenn die EU ihre Nachhaltigkeitsvorhaben nun verlangsamen oder sogar ganz aussetzen würde, es wäre noch dazu ein weiterer Fall abträglicher Wissenschaftsleugnung. Der Erhalt gesunder Ökosysteme ist von fundamentaler Bedeutung, denn diese sind entscheidend für die Widerstandsfähigkeit menschlicher Gesellschaften gegenüber Umweltschocks. Daher ist der Kampf für Ernährungssouveränität auch ein Kampf gegen den Klimawandel und gegen den Verlust der biologischen Vielfalt.