- Zwischen 1970 und 2005 ist die Artenvielfalt um rund 27 % gesunken
- Im dicht besiedelten Europa ist der Zustand von 80% der Fläche als “schlecht” eingestuft – die Artenvielfalt ist dadurch besonders bedroht
- Der geschätzte Geldwert renaturierter Ökosystemere übersteigt die erwarteten Kosten um mehr als das 10-fache
Menschliches Eingreifen in die Natur hat bereits 75% der terrestrischen Ökosysteme unseres Planeten maßgeblich verändert. Das Eingreifen in intakte Ökosysteme destabilisiert das vorherrschende Gleichgewicht und gefährdet damit unsere Lebensgrundlage. Die Zerstörung von Ökosystemen hat viele Gesichter und ebenso viele Folgen: Sie äußert sich als nächstes großes Artensterben, einem fortschreitenden Klimawandel, übernutzten Böden und dem, uns allen deutlich gewordenen, erhöhten Risiko für Pandemien. Um die globalen Nachhaltigkeitsziele zu erreichen, ist, neben dem unmittelbaren Ende weiterer Naturzerstörungen, die Wiederherstellung (Renaturierung) bereits zerstörter Ökosysteme deswegen von zentraler Bedeutung. Verzögerungen führen zu teils unvorhersehbaren Rückkopplungseffekten, die Zerstörung wird irreversibel und wir Menschen verlieren buchstäblich die Kontrolle. Die aktuelle Dekade bis 2030 ist das entscheidende Zeitfenster, um die fortschreitende Naturzerstörung umzukehren und den Klimawandel abzumildern. Eine tragende Säule der EU-Biodiversitätsstrategie bis 2030 ist daher die Zustimmung der Europäischen Kommission, rechtlich bindende Ziele zur Renaturierung von Ökosystemen vorzulegen. Nach monatelanger Verspätung wurde am 22. Juni endlich der Gesetzesvorschlag der Kommission veröffentlicht.
EU Nature Restoration Law – Das erste Naturschutzgesetz seit der EU-Habitat-Richtlinie 1992
Das übergeordnete Ziel ist die verpflichtende Wiederherstellung von 20% aller terrestrischen und maritimen Flächen der EU bis 2030. Bis 2050 sollen alle renaturierungsbedürftigen Flächen folgen. Um klimaresiliente Ökosysteme zu fördern, soll die Wiederherstellung von Lebensräumen gegenüber anderen Nutzungsformen Priorität haben. Der Vorschlag der EU-Kommission ebnet den Weg zum ersten Naturschutzgesetz seit dem Inkrafttreten der Flora-Fauna-Habitat-Richtlinie von 1992 und ist ein Meilenstein für die großflächige Wiederherstellung der Natur.
Zusammen mit dem Gesetzesvorschlag wurde außerdem die Revision über die Richtlinie zur nachhaltigen Verwendung von Pestiziden vorgestellt. Die darin enthaltenden Ziele schreiben eine um die Hälfte reduzierte Nutzung chemischer Dünger bis 2030 vor, um ein weiteres Artensterben und die Übernutzung von Ökosysteme zu verhindern.
Renaturierung – Die Bedeutung für Baden-Württemberg
Eine Renaturierung beschreibt die Bestrebung, den negativen Einfluss menschlichen Eingriffs rückgängig zu machen, indem aus kultivierten, genutzten Bodenoberflächen möglichst naturnahe Lebensräume wiederhergestellt werden. Dies kann beispielsweise die Beendigung einer wirtschaftlichen Nutzung oder die Beseitigung von Entwässerungssystemen sein. Renaturierungen verringern so den durch den Menschen auf die Natur ausgeübten Druck und schaffen eine diversere Landschaft, in denen auch auf spezielle Ökosysteme angepasste Arten ihren Platz finden. Darüber hinaus werden bei der Zerstörung natürlicher Ökosysteme in der Regel Mengen an Treibhausgasen freigesetzt, die die Erderwärmung beschleunigen. Die Renaturierungen entsprechender Flächen sind daher ein wichtiges Instrument, um CO2 aus der Luft in der Biosphäre zu binden und den Klimawandel einzudämmen.
In Baden-Württemberg gibt es bereits zahlreiche Beispiele erfolgreicher Renaturierung, die auch von der Bio.Vélo.Route aus zu entdecken sind. Zwei Beispiele möchte ich euch hier vorstellen:
Prozessschutz im Nationalpark
Der so genannte Prozessschutz ist ein besonderes Merkmal von Nationalparks und setzt voraus, dass natürliche Prozesse auch nach Störungsereignissen ohne anthropogenes Eingreifen ablaufen können. Der Bannwald Wilder See im Nationalpark Schwarzwald beispielsweise wird schon seit über 100 Jahren nicht mehr bewirtschaftet und sich selbst überlassen. Besondere Arten, die an ursprüngliche natürliche Lebensräume angepasst sind, finden in dem vielen Totholz und der heterogenen Altersstruktur Rückzug und Nahrung. Mit der Zeit entsteht so ein Urwald von morgen – ein wertvolles Ökosystem und Lernort für natürliche Regenerationsprozesse, die uns auch im Naturmanagement außerhalb des Nationalparks helfen können. Neben einer langen Entwicklungszeit ist für die Entstehung eines solchen Ökosystems vor allem ausreichend Raum nötig. Perspektivisch sollen dafür in 22 Jahren mindestens 75% der Nationalparkfläche unter Prozessschutz stehen. Diese Flächen bieten auch einen wichtigen Rückzugsort für Wildtiere und können dazu beitragen, dass große Jäger wie Luchs und Wolf sich langfristig wieder in Baden-Württemberg niederlassen.
Zwischen Schützen und Nützen – die Auwälder des Rheins
Begradigt und betoniert zieht sich der Rhein schnurgerade durch die oberrheinische Tiefebene und markiert dabei die Grenze zwischen Frankreich und Deutschland. Die Begradigung ermöglichte Schifffahrt und die Erschließung landwirtschaftlicher Nutzflächen. Gleichzeitig wurde die Flussaue – der durch wechselndes Hoch- und Niedrigwasser geprägte Uferbereich – großflächig zerstört. Diese sind nicht nur Babystube zahlreicher Fischarten, sondern auch natürliche Rückhaltebecken bei Hochwasser. Die Auerevitalisierung ist demnach nicht nur ein wichtiges Instrument bei der Bekämpfung des Artensterbens, sondern auch eine wichtige Maßnahme für den Hochwasserschutz. Auf ehemaligen Aueflächen werden auf baden-württembergischer Rheinseite insgesamt 13 naturnahe, bewaldete Überschwemmungsgebiete geschaffen, von denen einige schon erfolgreich umgesetzte wurden. Ein Beispiel auf französischer Seite ist der Foret d’Offendorf
Was es jetzt braucht
Der aktuelle EU-Gesetzesvorschlag ist ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Die Umsetzung wird aber kein Selbstläufer sein. Zum Einen brauchen wir eine umfassende Aufklärung der Bevölkerung, damit auch konkurrierende Akteuere die alternativlose Wichtigkeit von Ökosystemdienstleistungen gesunder Ökosysteme anerkennen und unterstützen. Zudem brauchen wir effektive Monitoring- und Kontrollkonzepte, um die Einhaltung der ambitionierten Ziele zu überprüfen. Wir Grüne im Europäischen Parlament werden den Vorschlag genau unter die Lupe nehmen. Gerade die verwässerten Passagen zu Torfflächen und Landschafstelementen müssen noch weiter verbessert werden.
Der vollständige Gesetzesvorschlag der Kommission