Brüssel, 1. August 2023
EU-Abgeordnete nennt neue EU-Leitlinien zur naturnäheren Waldbewirtschaftung „verpasste Chance” und fordert paneuropäische Waldbrand-Prävention
Soeben hat die EU neue, völlig ungenügende Leitlinien zur naturnahen Waldwirtschaft veröffentlicht, zugleich wüten überall in Europa weiter Waldbrände. Die EU-Abgeordnete und Forstwissenschaftlerin Anna Deparnay-Grunenberg kommentiert:
„Die Katastrophenschützer der EU haben alle Hände voll damit zu tun, die Waldbrände in Europa unter Kontrolle zu bringen. Sie koordinieren den Einsatz von Feuerwehrleuten, schicken europäische Löschflugzeuge, kümmern sich um Feuerüberwachungssysteme. Das ist lebensnotwendige Soforthilfe gegen akute Not. Gleichzeitig laufen wir dem Problem so nur hinterher.
Bisher verausgabt die EU ihre Mittel fast ausschließlich für reaktive Waldbrandmaßnahmen. Es wird höchste Zeit, dass wir uns nicht nur ums Löschen kümmern, sondern auch um die Prävention. So wie es nach einem Erdbeben darum geht, wie man erdbebensicher baut, müssen wir uns auf Standards einigen, wie man Wälder feuersicher bewirtschaftet und Waldbesitzende dabei unterstützt, eben das zu tun.
So sollten die Mitgliedsstaaten der EU angesichts erhöhter Temperaturen dafür sorgen, dass ihre Wälder die Feuchtigkeit bewahren, indem sie Kahlschläge konsequent verbieten, Mischwälder und Artenvielfalt fördern, für geschlossen Kronendächer sorgen und Waldlandschaften wieder vernässen. Kühle und nasse Wälder sind widerstandsfähiger gegenüber Bränden.
Auch gilt es, die Aufteilung unserer Kulturlandschaften neu und feuerpräventiv zu denken, also nicht mehr überwiegend getrennt in Forst- und Landwirtschaft. Gerade für Schutzstreifen existieren biodiverse Alternativen wie Agroforste, also Wälder mit landwirtschaftlicher Nutzung und silvopastorale Systeme, also eine Kombination aus Weide- und Waldwirtschaft.
Dafür bräuchten wir aber eine echte europäische Waldpolitik, das heißt verbindliche EU-Direktiven oder Verordnungen, die sich an den Naturfunktionen des Waldes orientieren. Dazu gehört, dass er Kohlendioxid absorbiert und als CO2-Senke fungiert. In manchen Ländern (Finnland, Lettland) sind Wälder inzwischen allerdings schon zu CO2-Emittenten geworden. Diese Wälder tragen somit selbst zur Klimaerwärmung bei, was das Risiko von Waldbränden weiter erhöht.
Nun hat die EU-Kommission Leitlinien zur naturnäheren Waldbewirtschaftung veröffentlicht. Was gut klingt, ist aus Sicht des Waldschutzes eine Unverschämtheit. Demnach sei es sogar schon "naturnäher", Wälder kahlzuschlagen und anschließend Baumplantagen zu pflanzen. Dabei schreibt die Kommission selbst, dass intensiv bewirtschaftete Wälder und Waldplantagen anfälliger für Waldbrände sind als intakte Waldökosysteme (‘heavily logged forest areas and plantations are prone to suffer more extensive fire damage than intact forests’). Ohnehin sind solche Leitlinien nur Empfehlungen und letztlich völlig unverbindlich.
Wir brauchen aber mehr EU-Kompetenzen, um die weitere Zerstörung der Wälder zu stoppen. Und: Wir benötigen dringend einen klaren politischen Willen der Mitgliedstaaten, gemeinsam eine ernsthafte Veränderungen der Forstpraxis anzugehen und die Waldwende einzuläuten. Chancen dafür gibt es immer wieder: Die EU-Kommission will diesen Herbst ein Gesetz zur Waldüberwachung (Forest Monitoring Law) vorlegen. Das könnte helfen, verbindliche Definitionen für einen intakten Wald festzulegen sowie Schäden zu identifizieren. Das würde zeigen, wie groß der Handlungsdruck bereits ist.
Offensichtlich reichen die Rauchzeichen der europäischen Wälder immer noch nicht aus, um auf die akute Not aufmerksam zu machen.”
Hintergrund
· Waldbrandjahr 2023: Seit Januar sind weit über 300.000 Hektar Wald in der EU verbrannt, davon allein 50.000 in Griechenland in den vergangenen zwei Wochen, so viel wie 95.000 Fußballfelder! Der vergangene Juli ist der heißeste Monat seit Beginn der Wetteraufzeichnung. Nie da gewesene Hitze und Trockenheit schaffen schnell brennendes Zunder.
Quellen:
https://joint-research-centre.ec.europa.eu/jrc-news-and-updates/wildfires-mediterranean-monitoring-impact-helping-response-2023-07-28_en
www.spiegel.de/wissenschaft/natur/hitze-der-juli-ist-der-heisseste-monat-seit-beginn-der-wetteraufzeichnung-a-55409ebc-f86c-408b-82af-d2c4c4963e9d
· Etwa 40 Prozent der terrestrischen EU-Fläche sind mit Wald bedeckt. Zwar nimmt die Waldfläche in der EU langsam zu, die Qualität des Waldes nimmt jedoch ab!Der IUCN zufolge sind 27 Prozent der Säugetiere, zehn Prozent der Reptilien und acht Prozent der Amphibien, die an Waldökosysteme gebunden sind, in der EU vom Aussterben bedroht.
Quelle:
European Environment Agency. (2020). Conservation status of habitat types and species: datasets from Article 17, Habitats Directive 92/43/EEC reporting (2013-2018) - PUBLIC VERSION - Aug. 2020. Conservation status of habitat types and species: datasets from Article 17, Habitats Directive 92/43/EEC reporting (europa.eu) www.iucnredlist.org
· Plantagenwirtschaft: Die schwinde Biodiversität rührt unter anderem daher, dass vielerorts intakte Wälder gerodet und mit einer einzigen Baumart als Baumplantage in Reih und Glied wieder aufgeforstet werden. Ein Drittel der EU-Waldfläche im Jahr 2015 bestand nur aus einer einzigen Baumart, während nur ein Viertel mehr als ein Altersstadium aufwies.
Quelle:
Forest Europe. (2020). State of Europe’s Forests 2020. https://foresteurope.org/wp-content/uploads/2016/08/SoEF_2020.pdf
· Wälder entzünden sich nicht von selbst. Laut der Forschungsstelle der Europäischen Kommission werden ca. 96 Prozent der Waldbrände in der EU durch menschliches Handeln verursacht, entweder fahrlässig oder vorsätzlich. Zur Prävention gehört somit unbedingt auch die Aufklärung der Bürger*innen.
Quelle:
RC Technical Report: Forest fires in Europe, Middle East and North Africa 2021
https://effis-gwis-cms.s3.eu-west-1.amazonaws.com/effis/reports-and-publications/annual-fire-reports/Annual_Report_2021_final_topdf1.pdf
· Im Jahr 2021 hat die Kommission Leitlinien zur Prävention von Waldbrändenherausgebracht. [5] Darin stehen einige nützliche, allerdings völlig unverbindliche Hinweise zu einer feuerpräventiven Waldwirtschaft. Dafür gab es auch theoretisch viele Fördermittel, die aber kaum in Anspruch genommen wurden.
Quellen: https://op.europa.eu/o/opportal-service/download-handler?identifier=4e6cc1f1-8b8a-11eb-b85c-01aa75ed71a1&format=pdf&language=en&productionSystem=cellar&part=
https://joint-research-centre.ec.europa.eu/jrc-news-and-updates/wildfires-mediterranean-monitoring-impact-helping-response-2023-07-28_en
· Die neuen EU-Leitlinien zur naturnahen Waldwirtschaft finden Sie hier https://data.consilium.europa.eu/doc/document/ST-12232-2023-INIT/en/pdf